Alia Schilling

Angehörige, Autorin und Leiterin der Hirntumor-Selbsthilfegruppe Mittelhessen

1. Wie entstand die Idee, eine Selbsthilfegruppe zu gründen?
Die Idee zur Gründung einer Hirntumorselbsthilfegruppe entstand 2018, als ich nach etwa über einem Jahr nach dem Tod meines Ehemanns, der an einem Glioblastom mit nur 34 Jahren verstarb, eine ehemalige Klassenkameradin wieder traf. Sie fragte mich zunächst persönlich nach Hilfe und Unterstützung, da ihre Mutter ein Meningeom hatte und ich mich mit der Thematik auskannte. Nach einigen Telefonaten und Treffen mit ihr und ihrer Mutter, informierte sie mich, dass sie im Klinikum noch andere Familien getroffen habe, denen sie von mir erzählte. Diese würden gerne an einer Hirntumorgruppe teilnehmen, aber ich solle sie leiten. Ich dachte über meine Erfahrung als Angehörige eines Betroffenen nach und erkannte, dass ich solch eine Gruppe damals vermisst habe. Ein Austausch zu Hirntumorthemen, eine Umarmung, Verständnis und eine Plattform, um über Ärzt*innen, Behandlungsmethoden und private Ausnahmezustände zu reden, das gab es bei uns nicht. Damals suchte ich nach Gesprächspartner*innen, um über die größer werdenden Einschränkungen meines Mannes zu berichten. Ich wünschte mir einen Ort, wo ich einfach hätte hinkommen können, um nur dasitzen, vielleicht eine Stunde lang zu weinen und danach zu gehen, mit jemanden, der mich fest in den Arm genommen hätte, Verständnis gezeigt und nicht beschwichtigt oder die Trauer verboten hätte. Mit dem Gedanken, anderen einen solchen Zugang zur Unterstützung bieten zu können, ihre Lebensqualität durch Kontakte zu verbessern und ihnen Hoffnung zu geben, eröffnete ich dann 2019 mit meiner besten Freundin die Hirntumor-Selbsthilfegruppe Mittelhessen.

2. Was motiviert Sie bei Gemeinsam gegen Glioblastom mitzuwirken?
Unsere Gruppe und auch ich persönlich sind der Meinung, dass „Vernetzung“ in der heutigen schnelllebigen Zeit unerlässlich ist. Es gibt gute Ärzteverbände und Tumorboards, die sich fachlich tiefgründig mit dem Thema Hirntumoren auseinandersetzen. Meine Gruppe bietet Empathie, Zusammenhalt, Umarmungen, ein echtes lebendiges Ohr, Taschentücher und Weihnachtsfeiern.
Gemeinsam gegen Glioblastom vernetzt uns. Die Kampagne arbeitet eng mit verschiedenen Ärzt*innen, aber auch Patient*innenvereinigungen zusammen und sie hat eine tolle Präsenz im Internet und den Sozialen Medien. Dies kann und möchte ich und meine Selbsthilfegruppe nicht bieten, aber nutzen. Denn auch wir benötigen Informationen, Hilfe und Unterstützung im Bereich der Hirntumoren. Wir möchten bei Veranstaltungen etwas dazulernen oder uns präsentieren, andere Selbsthilfegruppen kennenlernen oder spezialisierte Ärzt*innen zu Themen als Referent*innen gewinnen. Hier kann uns Gemeinsam gegen Glioblastom unterstützen, so wie wir Gemeinsam gegen Glioblastom durch unsere Anwesenheit und die Expertise als Selbsthilfegruppe unterstützen. Gemeinsam können wir so Betroffenen und Angehörigen den nötigen Raum und die wichtige Aufmerksamkeit geben.

3. Was hat Ihnen geholfen, Ihre eigenen Erlebnisse zu verarbeiten?
Nach dem Tod meines Mannes war ich sehr traurig. Die Erkrankung meines Mannes hatte ich nur bis zu seinem Tod durchdacht und „geplant“, dass danach mein Leben weitergeht und seins nicht, hatte ich außer Acht gelassen. Doch wusste ich von Anfang an: Seine Erkrankung und damit unsere gemeinsame Geschichte sollten nicht im September 2016 mit seinem Sterben enden. Dafür war er zu jung verstorben. Anfangs war ich zu müde, zu niedergeschlagen, um mich produktiv mit seinem Tod auseinanderzusetzen. Irgendwann war ich es auch mehr und mehr leid, über seinen Tumor und seinen langen Kampf zu berichten. Nicht, dass es mich traurig gemacht hätte, eigentlich half es mir sehr. Aber ich bekam mit jedem Gespräch mehr Angst, ich könnte in meinen Erzählungen Tatsachen nicht mehr wahrheitsgemäß wiedergeben, somit sein Leben verfälschen und die Erinnerung an ihn verändern. Ich wollte sein Leben festhalten und den Schmerz loslassen. Meine Erlebnisse habe ich auch in meinem neuen Buch „Leben und Sterben mit einem Hirntumor“ verarbeitet. Das wichtigste Kapitel, was alle Betroffenen, Angehörigen, Ärzt*innen, Krankenkassenmitarbeiter*innen, Lehrer*innen, Nachbarn*innen – wirklich alle Menschen – lesen sollten, ist das Kapitel „Hilfe ist möglich“. Dies ist jedoch nicht 2016 in der Verarbeitung entstanden, sondern 2021. Meine Selbsthilfegruppe hat mir bei dem Kapitel inhaltlich unglaublich stark geholfen, so dass ich glaube, damit ganz vielen anderen Menschen helfen zu können. Mit diesem Kapitel war mir dann auch klar, das Buch muss veröffentlicht werden. Zusätzlich haben mir stets auch meine besten Freundinnen geholfen, die immer für mich da waren.

 

4. Mit welchen Herausforderungen kommen die Betroffenen oder Angehörige oft auf Sie zu?
Betroffene und Angehörige rufen uns an, um mit Menschen, die sie verstehen und ihre Anliegen nachvollziehen können, über eigene Erfahrungen mit der Krankheit, den Behörden, Ärzt*innen, Behandlungsmethoden, Versicherungen und Pflegestufen zu sprechen. Sie stellen Fragen über ihre Lebenszeitprognose, über das Sterben, über alternative Heilmethoden, über Ablehnung von Reha-Anträgen, darüber, wie sie mit ihren Kindern über die Situation sprechen können. Alle suchen neuen Halt in ihrer seit kurzem bestehenden unsicheren Situation mit einer Lebenszeit einschränkenden Erkrankung.

 

5. Welchen Ratschlag haben Sie für Betroffene und Angehörige?
In meinem Buch „Leben und Sterben mit einem Hirntumor“ widme ich dem Thema sogar ein ganzes Kapitel, um Betroffenen Tipps und Hilfen bei einer Hirntumorerkrankung zu geben. Mein wichtigster Tipp, nachdem alles Medizinische geregelt ist, ist für Angehörige: „Pass auf dich auf.“ Ohne dich hat der/die Betroffene irgendwann keinen Halt mehr. Du bist ab einer bestimmten Progression des Tumors sein „Zweithirn“, du denkst für ihn/sie, du sprichst für ihn/sie, bist z.T. seine/ihre Hände, Augen und Leben. Allen rate ich: „Bleib im Wandel“, denn so eine Erkrankung bedingt immer Wandel.
Am Telefon oder in der Selbsthilfegruppe informieren wir Betroffene und Angehörige, dass es zunächst wichtig ist einen Neurochirurgen zu finden, denen sie vertrauen können und einen Hausarzt zu haben, den sie mögen und bei dem sie sich verstanden fühlen. Danach erklären wir, dass es eine kostenfreie psychoonkologische Betreuung an unseren Kliniken in Gießen und Marburg gibt – auch für Angehörige und Kinder der Erkrankten.
Auch ermutige ich zum Reden. Denn ihr könnt, in Absprache miteinander, alles ändern, damit es für euch besser passt. Euer Umfeld, eure Hobbys, eure Jobs, eure Liebe, alles darf, nichts muss. Als letzten wichtigen Punkt sehe ich auch innerhalb der Erkrankung und Kernfamilie die Vernetzung an. Ich ermutige, dass sich Betroffene beste Freund*innen, einen Coach, eine/n Therapeut*innen und oder eine Selbsthilfegruppe suchen, die sie begleiten und auch auf sie aufpassen.

Von meinem verstorbenen Mann gibt es folgende Tipps:
Noch bist du nicht tot, LEBE! Genieße dein Dasein, feiere, lache, mache alle Dinge, die du schon immer mal tun wolltest. Und als Resümee: Nimm den Tumor stets mir Humor. (Ingo Schilling-Holaschke)

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